Kommunikation selbst in die Krise – Storymachine und das Heinsberg Protokoll
Kaum eine wissenschaftliche Studie hat schon vor ihrem offiziellen Erscheinen so viel Aufregung ausgelöst wie die sogenannte Heinsberg-Studie. Unzählige Medien haben die Untersuchung des Bonner Virologen Hendrik Streeck und seines Teams über Verlauf und Ausbreitung von COVID-19 im besonders betroffenen Ort Gangelt im Kreis Heinsberg aufgegriffen. Dabei interessierten sich die meisten Journalist*innen weniger für die wissenschaftlichen Methoden, sondern vor allem für die politischen Auswirkungen der vorläufigen Ergebnisse – und für die Rolle der Berliner Kommunikationsagentur Storymachine. Storymachine hatte sich einige Tage nach dem Start der Untersuchung in einem Social-Media-Posting als Betreiber der begleitenden Facebook- und Twitter-Accounts „Heinsberg Protokoll“ zu erkennen gegeben.
So weit, so normal: Dass Studien kommunikativ begleitet werden, ist weder neu noch verwerflich. Ebenso wenig ist es zu beanstanden, dass die Politik Studien in Auftrag gibt – das gehört zum Alltagsgeschäft und zeugt vom Verantwortungsbewusstsein der politisch Handelnden, die sich erst einmal ein wissenschaftlich fundiertes Bild machen wollen, bevor sie womöglich fehlerhafte Entscheidungen treffen. Wenig überraschend ist auch, dass gerade diese Studie besonderes Aufsehen erregt. Schließlich versprach sie erstmals datengestützte Erkenntnisse aus Deutschland zu der derzeit alles überschattenden Pandemie. Zu guter Letzt waren auch die beteiligten Forscher – allen voran der erfahrene Virologe Hendrik Streeck – grundsätzlich über jeden wissenschaftlichen Zweifel erhaben.
Woran also machen die Medien ihre „Kritik“ und „Zweifel“ fest? Was ist der eigentliche „Skandal“? Und was ist offenbar schief gelaufen in der Krisenkommunikation? Eine Annäherung:
Vom Zeitdruck getrieben?
Die Durchführung der Heinsberg-Studie erfolgte ab dem 30. März und fiel genau in die Zeit der harten Restriktionen: In ganz Deutschland waren Schulen, Geschäfte, Restaurants und vieles mehr geschlossen. Es herrschte Unsicherheit: Ab wann wären Lockerungen aus Sicht der Politik gerechtfertigt? Wie lange würde die komplett lahmgelegte Wirtschaft noch durchhalten? Wann würde die Unterstützung der Bevölkerung in Ärger umschlagen über die völlige Unwissenheit, wie es weitergeht? Diese Gemengelage – die ja im Grunde auch heute noch besteht, wenn auch in etwas milderer Form – brachte die Wissenschaftler der Heinsberg-Studie unter enormen Zeitdruck. Insbesondere die Erwartungshaltung der an der Studie finanziell beteiligten NRW-Landesregierung dürfte dazu beigetragen haben, dass ein ungewöhnlicher Schritt gegangen wurde: Am Gründonnerstag, nur eineinhalb Wochen nach Beginn und lange vor Abschluss der Untersuchungen, verkündeten die Beteiligten in einer Pressekonferenz erste „Zwischenergebnisse“, auf deren Grundlage die strengen Auflagen allmählich gelockert werden könnten.
Die Vorwegnahme der eigentlichen Endergebnisse hat Kritik hervorgerufen: Journalisten und Wissenschaftler gaben zu bedenken, dass wichtige Informationen zur Einordnung der Zwischenergebnisse nicht offengelegt worden seien. Auch zweifelten sie die Aussagekraft der Daten und der Übertragbarkeit der Erkenntnisse – etwa was die Sterblichkeitsrate oder die Dunkelziffer der Erkrankungen betrifft – auf größere Regionen oder ganz Deutschland an. Der Eindruck, überhastet und möglicherweise verknappt an die Öffentlichkeit gegangen zu sein, dürfte auf den politischen Druck zurückzuführen sein, die Ergebnisse noch vor Ostern – und damit auch vor der Entscheidung der Ministerpräsidenten über mögliche Lockerungen – zu präsentieren und sie damit zu einem wichtigen Baustein dieser Entscheidung zu machen.
Intransparenz
In der Krisenkommunikation sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit wichtige Faktoren. Diese erreicht man nur mit einem Mindestmaß an Transparenz. Umgekehrt bedeutet das aber auch: Wo auch nur der Verdacht von Intransparenz oder Undurchsichtigkeit auftaucht, entstehen bereits Zweifel und das Vertrauen leidet. Im Fall der Heinsberg-Studie trifft das nicht nur auf die eben beschriebene Präsentation der Zwischenergebnisse zu, die dem wissenschaftlich versierten Publikum nicht genügend Kontext zur Beurteilung der Erkenntnisse lieferte, sondern vor allem auf die Rolle der Kommunikationsagentur Storymachine. Diese hat zwar – entgegen sonstiger Gewohnheit – ihre Beteiligung in Form einer Dokumentation der Forschungsarbeit zu erkennen gegeben. Trotzdem blieben viele Fragen offen. Wer hat Storymachine beauftragt? Wer hat die Dienste der Agentur bezahlt? Und worin genau bestehen diese Dienste? Zwar gab Agenturchef Philipp Jessen dem Branchendienst „Meedia“ am 9. April – besagtem Gründonnerstag – ein Interview zu diesem Komplex, doch seine oft nur aus einem Satz bestehenden Antworten wirkten teils eher verschleiernd als erhellend. So erklärte er die Aktivität der Agentur zur „Eigeninitiative von Storymachine“. Ein Teil der Kosten werde von Partnern übernommen – welche das sind, sagte Jessen im Interview nicht. Und ließ damit wieder Intransparenz, den Nährboden des Zweifels, in das eigentlich als Offenlegung angepriesene Interview („Zum ersten Mal spricht Philipp Jessen über ein Storymachine-Projekt“) Einzug halten.
Zuspitzung
In der Folge verlagerte sich die Medienberichterstattung über die Studie immer weiter in Richtung des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und Kommunikation. So erfuhr die Öffentlichkeit via „Kölner Stadt-Anzeiger“, dass die Einbindung von Storymachine durch die langjährige private Bekanntschaft zwischen dem Virologen Streeck und Michael Mronz, Mitinhaber von Storymachine, zustande gekommen sei – ein anderes Narrativ als das der „Eigeninitiative“ von Philipp Jessen.
Am 12. April teilte Jessen per Tweet mit, welche Partner Storymachine beim „Heinsbergprotokoll“ finanziell unterstützen: die Unternehmen Deutsche Glasfaser und Gries Deco Company – beide waren unmittelbar von den Corona-Beschränkungen betroffen. Am 17. April berichtete „Capital“ über eine dem Autor vorliegende Projektbeschreibung der Agentur. Danach klinge die Aktivität von Storymachine nach weit mehr als einer reinen Dokumentation, sondern nach „einer klassischen PR-Kampagne, die ein bestimmtes Ziel verfolgt“: das Ziel der Lockerung. Storymachine wies diese Interpretation zurück, doch die Berichterstattung nahm weiter Fahrt auf. Die „Tagesschau“, die „Süddeutsche Zeitung“ und etliche mehr griffen den Vorwurf auf, die gewünschten Schlussfolgerungen der Studie hätten möglicherweise schon vor den Ergebnissen festgestanden. Laut „Stern“ befasst sich inzwischen der Deutsche Rat für Public Relations mit dem Fall. Im NRW-Landtag stellte die SPD mehrere kleine Anfragen zur Finanzierung und zu den Hintermännern der Heinsberg-Studie.
Cui bono?
Inzwischen hat die Berichterstattung ein kaum noch zu überschauendes Ausmaß angenommen. Immer neue Fragezeichen, Unstimmigkeiten und Mutmaßungen über mögliche Zusammenhänge tauchen auf. „Wusste die NRW-Landesregierung von der Beteiligung der PR-Agentur Storymachine am Heinsberg-Protokoll?“, fragt die ARD-„Tagesschau“ am 11. Mai. „Man stritt das ab. Nun wird klar: Die Regierung war informiert – seit Anfang April.“ Einen anderen Ansatz hat die „Sportschau“: Sie hinterfragt die Rolle von Mitagenturinhaber und Sportmanager Michael Mronz, der seit Längerem bemüht ist, die Olympischen Spiele 2032 nach NRW zu holen. Ministerpräsident Armin Laschet und Mronz rührten dafür „seit Monaten die Werbetrommel“, heißt es in Bericht von sportschau.de vom 19. Mai. „Ob Storymachine mit der Landesregierung auch im Zuge der Olympiabewerbung 2032 zusammenarbeitet? Und ob es in der Privatinitiative ‚Rhein Ruhr 2032‘ auch Partner gibt, die ebenfalls bei Storymachine unter Vertrag stehen?“
Cui bono – wem nützt es, ist die entscheidende Frage.
Von der Agentur selbst ist schon seit Längerem keine Antwort dazu mehr zu lesen. Stattdessen heißt es etwa: „Storymachine äußerte sich auf sportschau.de-Anfrage nicht“. Auch auf den Accounts von “Heinsberg Protokoll“ ist seit 4. Mai (dem Tag der Veröffentlichung des Abschlussberichts) Stille. Die Medienberichte über mutmaßliche Interessenverquickungen und das Zusammentreffen privater und geschäftlicher Verbindungen konnte das indes nicht stoppen.
Ohne den wahren Hintergrund zu kennen oder auch nur kennen zu müssen, fallen mehrere kommunikative Prinzipien ins Auge, deren Befolgung eine solche Eskalation rund um die doch eigentlich zu begrüßende Heinsberg-Studie möglicherweise hätten verhindern können: Dazu gehört eine klare und aktive Offenlegung der Umstände. Wäre gleich kommuniziert worden, dass die Idee zur Unterstützung durch Storymachine während eines privaten Treffens von Streeck und Mronz entstanden ist, hätte sich die Verwunderung in Grenzen gehalten. Auch wäre es gut gewesen, die Kommunikationsarbeit als solche zu bezeichnen, statt sie in vermeintlich objektive Beschreibungen wie „Dokumentation“ und „journalistische Herangehensweise“ zu kleiden. Und schließlich liefern unbeantwortete Medienanfragen oft mehr Zündstoff als beantwortete. Wer wüsste das besser als Ex-„Stern“-Chef Philipp Jessen und Ex-„Bild“-Chef Kai Diekmann von der Agentur Storymachine?